Erinnerungsorte sind wichtig für ein „Nie wieder“!

Im Titelbild: Bürgermeister Hans-Jürgen Scheerbaum bei seiner Ansprache in Höfenneusig.

Bewusst war das Datum „16. Mai“ zur Enthüllung der Informationstafel über die einst in Rattelsdorf lebenden und deportierten Sinti-Familien gewählt. „Das war der Tag des ‚Aufstands in Auschwitz–Birkenau‘ im Jahr 1944“, so erklärte es Erich Schneeberger, Vorsitzender des VDSR (Verband der Sinti und Roma), Landesverband Bayern, den anlässlich der Gedenkveranstaltung an der Kreuzung Hauptstraße/Kirchgasse Anwesenden.

Nachweislich zwei in dieses ‚Zigeunerlager‘ gebrachte Männer aus Rattelsdorf waren daran beteiligt. Der Lagerabschnitt B2e , in dem Sinti und Roma inhaftiert waren, sollte ‚aufgelöst‘ werden, das heißt man plante deren Ermordung. Nachdem sich die Häftlinge wehrten, wurden nach der Niederschlagung ca. 3.000 Arbeitsfähige auf andere Lager verteilt, „darunter war auch meine Mutter“, erinnerte Erich Schneeberger an die unrühmliche Geschichte Deutschland. Den Zuhörern, die noch vor dem verhüllten Denkmal saßen, wurde verdeutlicht, dass diese Tat einen lokalen Bezug hatte, der bisher kaum bekannt war.

Der Verbandsvorsitzende fuhr in seiner Erzählung fort und erinnerte daran, dass die zirka 4.200 Zurückgebliebenen, die Älteren, Frauen und Kinder, in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 von der SS ermordet wurden, weshalb international jährlich am 2. August an diese Opfer des Völkermordes erinnert wird.

„Der nationalsozialistische Staat sprach den Angehörigen unserer Minderheit auf der Grundlage einer menschenverachtenden Rassenideologie kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren“, so Schneeberger. „Der Holocaust an unserer Minderheit war ein Staatsverbrechen, das von einem modernen Verwaltungsapparat akribisch geplant und ins Werk gesetzt wurde“, betonte er. Auch die Kirchen hätten sich dem Morden nicht entschieden genug widersetzt, obwohl ihnen die Dimension der Vernichtung von Menschen bekannt war.

Im Folgenden ging er auf die Tafeltexte ein, welche nun dauerhaft an die unheilsame Geschichte erinnern sollten. Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde konkretisiert, denn die 1946 eingeführte ‚Landfahrerzentrale‘ und ‚Bayerische Landfahrerordnung‘ forderte die polizeilichen Erfassung und somit Diskriminierung bis ins Jahr 2001. Die Anfang der 1980er Jahre gegründete Bürgerbewegung schaffte es 1982, dass dieser Völkermord an den Sinti und Roma vom Bund anerkannt wurde. Schließlich bemerkte Schneeberger eindringlich, dass erst ein jahrzehntelanger politischer Kampf diese Erkenntnis im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt hat, und appellierte: „Der Völkermord an unserer Minderheit hat einen eigenen historischen Stellenwert, und unseren Opfern muss eine eigene Erinnerung und eine eigene Würde zukommen!“

Nach der Enthüllung der Tafel in Rattelsdorf: Andreas Beneker, Leiter des EBZ Bad Alexandersbad; Martin Becher, ELKB; Bezirksheimatpfleger Prof. Dr. Günter Dippold; Erster Bürgermeister Hans-Jürgen Scheerbaum (Rattelsdorf); Regionalbischöfin Berthild Sachs (ELKB Bayreuth); Verbandsvorsitzender Erich Schneeberger der VDSR Bayern

Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?

Martin Becher von der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern hatte schon zu Beginn der Veranstaltung erklärt, dass die ELKB vor fast vier Jahren im Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum (EBZ) Bad Alexandersbad, zuerst mit Nicole Janka (Fachstelle für ‚Demokratie leben in der Mitte Europas‘/Bayerisches Bündnis für Toleranz), dann mit Dr. Thomas Bollwein, eine Arbeitsstelle „Antiziganismus“ verankert hatte, um diese Thematik nach langer Tabuisierung einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen. Das Kooperationsprojekt mit dem VDSR sieht seine Aufgabe darin, diese schrecklichen Ereignisse der Deportation von Sinti-und-Roma-Minderheit und dem Völkermord an ihnen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

In Rattelsdorf habe es teilweise eine glückliche Wendung gegeben. Diejenigen, die aus dem KZ zurückkamen, wurden hier wieder gut aufgenommen und erhielten ihre Häuser, ihr Hab und Gut zurück. Die hiesige Örtlichkeit sei daher weniger belastet als andere Gemeinden. Neben der hier vor Ort geleisteten Erinnerungsarbeit sollen in den folgenden Tagen weitere Tafeln enthüllt werden: in Weißenstadt, um über ein antiziganistische Pogrom der Frühen Neuzeit zu berichten, in Münchberg, wo Sinti zur NS-Zeit gleichfalls nach Ausschwitz deportiert worden waren und in Bad Berneck, wo im 18. Jahrhundert eine antiziganistische Hinrichtung stattfand.

Im Laufe der Veranstaltung stellte Martin Becher die einzelnen Redner und ihre jeweilige Beteiligung an dem wissenschaftlich begleiteten Projekt vor.

Die ELKB übernimmt Verantwortung

Der theologisch-pädagogische Vorstand vom EBZ Bad Alexandersbad, Andreas Beneker, nutzte die Gelegenheit, an die Nachlässigkeit in der Vergangenheit zu erinnern. Die Errichtung der neuen Arbeitsstelle erfülle nicht mit Stolz, sondern mit Demut. „Denn wenn wir uns unserer eigenen Wurzeln vergewissern würden“, so der Theologe, dann lese man in der Botschaft des Apostels Paulus, im Galater-Brief (3,28) der Heiligen Schrift, in der es keine Unterschiede, „nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau gibt“, und genau diesen internen universalistischen Ansatz habe man sträflich außer Acht gelassen. „Wenn wir als Christen den eigenen Ursprüngen gerecht werden wollen“, müsse man tatsächlich auch dafür eintreten, dass es unter Menschen keine Unterschiede gibt. Er und das EBZ seien dankbar dafür, dieses Projekt begleiten zu dürfen.

Eine Tafel sei vielfältige Erinnerung: Sie erinnert an Zeiten, wo man dem gerade geschilderten Anspruch nicht gerecht wurde, und sie erinnert an Augenblicke, wo Menschen gefährdet sind, Hass und Ausgrenzung ausgesetzt. Die Hoffnung an diese Erinnerung laute: „Nie wieder!“

Verantwortlich für das Ergebnis zeichnete sich laut Moderator Becher ein Beirat: Dabei sei Regionalbischöfin Dorothea Greiner (Bayreuth) vor kurzem von ihrer Nachfolgerin im Amt, Berthild Sachs, abgelöst worden.

Sie selbst könne daher nicht viel beitragen, so die Bischöfin, verbinde aber mit dem Thema „Antiziganismus“ eine persönliche Erfahrung unter dem Begriff ‚Hiffenmark‘. Sie bekam einst das köstliche Mus aus Hagebutten, eingemacht von einem Mesner-Ehepaar überreicht. Als sie nach dem Ursprung der leckeren ‚Hiffen‘ fragte, bekam sie zur Antwort, die stammen aus Siebenbürgen und seien von Zigeunern gegen ein Päckchen Zigaretten eingetauscht worden. Seither hat dieses kleine Erlebnis einen bitteren Beigeschmack, denn Antiziganismus, die Diskriminierung, Verachtung und Ausgrenzung von Sinti und Roma finde immer noch mitten im Alltag statt. Damals habe sie nicht widersprochen, heute sei sie erschrocken und schäme sich dafür.

Dankbar sei die Regionalbischöfin, dass hier in Rattelsdorf und an anderen Gemeinden Oberfrankens das Schweigen gebrochen werde, das Schweigen über den Völkermord, dem im Nationalsozialismus 500.000 Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind: „Wir brauchen solche Erinnerungsorte, damit die Opfer Namen, Identität und einen Hauch von Würde zurückerhalten“. Sie werden heute angesichts von altem und neuem Rassismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gebraucht.

Nach ihrem Dank an die Verantwortlichen schloss sie mit den Worten des Theologen Martin Stöhr zum Genozid an Sinti und Roma: „Die Zerstörung der Einheit der Menschheit und Menschlichkeit wurde Alltagspraxis. Zum Tode bestimmt waren zwei Völker, die Juden sowie die Sinti und Roma“. Aus evangelischer Perspektive wäre dies auch Schuld- und Versagensgeschichte.

In Rattelsdorf sei jetzt nicht nur ein Erinnerungsort geschaffen worden, sondern ein Mahnmal: „Nie wieder schweigen, nie wieder wegschauen“. Wir seien es selbst, die aus dem Versagen von damals lernen können: „Tun wir’s also!

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Die Aufgabe der ‚Heimatpflege‘

Mit Bezirksheimatpfleger Professor Dr. Günter Dippold kam ein weiteres Beiratsmitglied zu Wort, wobei er zunächst erklärte, was ‚Heimatpflege‘ damit zu tun habe. Im Gegensatz zu vor 50 Jahren, als es wohl keine Gemeinsamkeiten gab, sehe man es heute ganz anders. Heimat wachse aus dem Miteinander, müsse alle mitnehmen und dürfe keinen Unterschied zwischen Abstammung und Herkunft machen. Heimat lebe aus Erinnerung, an die Schönheit der Region, Bauten, Musik, Trachten. Sie tue aber auch manchmal weh, wenn man sich an Verluste und Schmerz erinnert. Sie müsse ganzheitlich sein.

Das Erinnern an das Schöne und das Gedenken an das Schmerzliche gehöre zusammen, man könne es nicht trennen. Doch dies heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. „Es lebt wohl 2025 niemand mehr, der damals Schuld auf sich genommen hat“, postulierte der Bezirksheimatpfleger: „Verantwortung vererbt sich, Verantwortung heißt, getreu an alles zu erinnern!“

Verbrechen, Fehler, Gewalt dürfen sich nicht mehr wiederholen. Wenn Gewalt begonnen hat, in den politischen Diskurs einzudringen, dann muss man tatsächlich Sorge haben, dass aus verbaler Gewalt auch wieder tätliche Gefahr entstehen kann. Das Übernehmen von Verantwortung, wie es mit dem Aufstellen dieses Mahnmals passiere, sei wichtig.

An die Millionen Opfer des Nationalsozialismus müsse erinnert werden. Es dürfen nicht nur Zahlen und Nummern genannt werden, sondern das Geschehene soll auf örtlicher Ebene heruntergebrochen und vor Ort sichtbar gemacht werden. Die Opfer wurden auf Fragebögen, auf eintätowierte Nummern reduziert. „Wir müssen von Menschen reden, wie von den Familien Braun, Ernst, Franz und Friedrich aus Rattelsdorf und Höfenneusig“, so spannte Dippold den Bogen zur Lokalgeschichte. Erst vor kurzem wurde die Wanderausstellung „Aktion T 4“ in Kutzenberg vorgestellt, bei der aufgrund der nationalsozialistischen Ideologie 446 Menschen ermordet wurden; die Lebensrückblicke der ersten zehn Opfer wurden dort thematisiert.

Die Geschichte des Mordens an den Sinti  und Roma beginnt schon lange vor 1933 und hat auch nach 1945 noch Bestand gehabt, begann Dippold mit seinem Sprung in die Vergangenheit. Nachgewiesen sind sie seit dem 15. Jahrhundert. Erste Mandate der Benachteiligung wurden im 16. Jahrhundert veröffentlicht. Hundert Jahre später begannen die Verbote des Durchzugs. An den Grenzen standen ‚Zigeunertafeln‘, auf denen gedroht wurde, dass derjenige, wenn erwischt, zu Tode geprügelt oder bei mehrmaligem Antreffen erhängt werde. Im Banzer Wald fanden in den 1730er Jahren regelrechte Hetzjagden auf sogenannte ‚Zigeuner‘ statt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zwischen der sesshaften Bevölkerung und Menschen, die nicht sesshaft waren, unterschieden. Im ‚Zigeuner-Buch‘ wurden sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe oder, weil sie in ‚Zigeunerart‘ lebten, vermerkt und in den Ruf der Kriminalität gerückt. Die Nationalsozialisten haben dann unter rassistischen Vorzeichen diese Verfolgung intensiviert.

„Das entscheidende Wort, heißt ‚völkisch‘, und es sei bedrückend, dass es heute in Deutschland Parlamentarier gibt, die dieses Wort wieder normalisieren wollen“, so lenkte Dippold seine Rede in die Gegenwart: „Völkisch definiert ein Volk, eine Rassen-, Abstammungsgemeinschaft und schließt andere, die derselben Nation angehören, als nicht-zugehörig aus“. Was Juden, was Sinti für die Gemeinschaft geleistet haben, galt nichts mehr, – und als das Morden herauskam, gehörte es zur Geschichte Deutschlands. Es sei daher gut, wichtig und richtig, was hier heute getan werde, „dass wir nämlich ehrend Gedenken an die Opfer verwerflicher Ideologien.“

Rattelsdorf übernimmt Verantwortung

Beim Ersten Bürgermeister Hans-Jürgen Scheerbaum hatte sich Dippold bereits vorher bedankt, dass die Tafel ‚am Stachus‘ von Rattelsdorf, ‚am Puls des Lebens‘ aufgestellt worden sei, nicht in irgendeiner Ecke, sondern Mittendrin. Sie ist eingebunden in einen lebhaften Straßenverkehr, was man während der Gedenkveranstaltung lautstark miterleben konnte.

Das Gemeindeoberhaupt hatte bereits bei seiner Begrüßung erklärt, dass man zukünftig an die Gemeinschaft der Sinti, die entrechtet, verfolgt und ermordet wurden, erinnern will. Das unfassbare Leid begann auch hier in der Gemeinde. Offenbar gab es aber Menschen, die nicht in allen Punkten mit blindem Gehorsam reagierten, so dass einige Familien gewarnt und gerettet werden konnten.

„Wir wollen die Tafel nicht verstecken, sie muss wahr genommen werden …; in Zeiten, in denen Hass, Hetze und Ausgrenzung wieder lauter werden, ist dieser Ort mehr als nur ein historisches Mahnmal“, erklärte Bürgermeister Scheerbaum. Er wünsche sich Wachsamkeit für eine Gesellschaft, die aus ihrer Geschichte lernt, Verantwortung übernimmt und Menschlichkeit verteidigt.

Zum Abschluss des ersten Teils dieser Gedenkveranstaltung wurde die Informationstafel von der Rednerin, den vier weiteren Rednern und Moderator Becher behutsam enthüllt. Im Text hervorgehoben wurde die enge lokale Verbundenheit mit den Sinti-Familien Braun, Ernst, Franz und Friedrich. Sie waren katholisch und Teil der Dorfgemeinschaft, sie waren Berufsmusiker, Artisten sowie als Schausteller und Händler tätig.

Weiter ging es nach Höfenneusig

Der zweite Teil der Veranstaltung fand in Höfenneusig statt, um die dort angebrachte Gedenktafel in Erinnerung an die deportierte Sinti-Familie Braun zu ehren.

Betroffen und andächtig bildete sich ein Kreis um den Ortsbrunnen von Höfenneusig, vor dem Anwesen Nr. 10, als der Vorsitzende des VDSR Bayern, Erich Schneeberger, das Wort an die Umstehenden richtete. Jetzt waren auch Nachkommen der Sinti-Familie Braun mit anwesend, deren Namen auf einer Bronzeplatte am Brunnenbecken eingegossen waren.

Der Verbandsvorsitzende blickte auf die über dreieinhalb Jahre lang geführten Gespräche zurück, die dieses vom EBZ Bad Alexandersbad betreute Erinnerungsprojekt bereichert hatten, und dankte zudem der Marktgemeinde Rattelsdorf bei dessen Umsetzung hier vor Ort. Über Generationen lebten hier Sinti, die alleine aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu unserer Minderheit von den Nationalsozialisten gefangen genommen wurden, fügte Schneeberger hinzu. Aufgrund der menschenverachtenden Rassenideologie sprachen die Nationalsozialisten den Angehörigen der Sinti und Roma ihr Existenzrecht ab. Bereits am 16. Oktober 1942 erließ der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, die Order, die sich im Reichsgebiet aufhaltenden Sinti und Roma nach Auschwitz zu deportieren. Ab Februar 1943 wurde dies auf elf europäische Länder, ca. 23.000 Sinti und Roma, ausgedehnt. Davon fielen 90 Prozent der inhaftierten Menschen den unmenschlichen Lebensbedingungen zu Opfer, oder wurden im Gas erstickt. Über 500.000 Menschen wurden systematisch vernichtet. Zuvor war ihr Grundbesitz und Vermögen eingezogen worden, den Zurückkehrenden wurde nur in wenigen Fällen ihr Hab und Gut zurückgegeben. Die hier lebende Familie Braun hatte dieses Glück: „Rattelsdorf und Höfenneusig blieb für sie trotz der Gräuel, die sie während der NS-Zeit erleben mussten, Heimat!“

Mit Hinweis auf die vom Steinmetz Josef Römer (Hirschaid-Köttmannsdorf) gestaltete bronzene Gedenktafel vor dem früheren Wohnhaus der Familie Braun verlas Erich Schneeberger die Namen der am 5. März 1943 von hier verschleppten Familienmitglieder.

Damit sei auch an alle Opfer des Holocaust erinnert, die zwischen 1933 und 1945 durch den Rassenwahn und Terror der Nationalsozialismus um Leben, Frieden und ein persönliches Glück auf Erden gebracht wurden, fügte der Verbandsvorsitzende hinzu.

Die Gedenktafel in Höfenneusig.

„Ort der Erinnerung“

Bürgermeister Hans-Jürgen Scheerbaum widmete in seiner Ansprache diesen Platz als ‚Ort des Erinnern‘, für die, die im Alltag hier vorbeigehen, stehen bleiben, Wasser schöpfen und ins Gespräch kommen. Erinnert werde an die Familie Braun, deren Leben von hier aus gewaltsam unterbrochen wurde. Das Gemeindeoberhaupt sieht es als starkes Zeichen, „dass die Nachkommen heute hier mit uns stehen“. Es sei ein Zeichen für das Weiterleben, für die Verbundenheit mit diesem Ort und der Würde, die bleibt. Die Tafel sei kein große Denkmal, doch sie erinnert daran, dass auch in Höfenneusig Sinti lebten, Menschen, die verfolgt wurden, aber nicht vergessen werden. Allen Beteiligten, die dafür gesorgt hätten, dass die Geschichte der Familie Braun einen Platz im öffentlichen Raum und in den Herzen bekommt, sprach er seinen Dank aus.

Renaldi Schröder ergriff das Wort im Namen seiner Ehefrau, der Enkelin von Walter und Agathe und der Tochter von Ella Braun, Sie waren angesehen Bürger, der Großvater war Pferdehändler, die Großmutter eine Stoffhändlerin. Die Kinder besuchten regelmäßig die Schule im Ort. Er schilderte die schrecklichen Ereignisse in der Nacht vom 5. März 1943, dem zehnten Geburtstag seiner Schwiegermutter: „Sie wurden auf brutalste Weise von der Gestapo geweckt und verhaftet, dann von der SS nach Auschwitz gebracht. Am 5. März begann der Leidensweg, das ganze Hab und Gut musste zurückgelassen werden, sie litten unter Hunger und hatten täglich den Tod vor Augen. Als sie nach Kriegsende zurückkamen war das Haus und Inventar an eine andere Familie weitergegeben worden. Durch den damaligen Bürgermeister Köst bekam die Familie alles wieder zurück, und sie lebten noch einige schöne Jahre in Höfenneusig mit den Bürgern und Nachbarn in Frieden und Harmonie“.

Im Namen der Familie Braun bedankte er sich für diese Gedenktafel, insbesondere bei allen Beteiligten. Von der noch lebenden Tante Maria Wust, geborene Braun, der es gesundheitlich nicht so gut ginge, übermittelte Herr Schröder „herzliche Grüße und Gottes Segen.“

Zum Abschluss übergab der Moderator Andreas Beneker, Leiter des EBZ Bad Alexandersbad, das Wort an die Regionalbischöfin Berthild Sachs. Sie war sehr bewegt, dass sich die Veranstaltung schon zu einem Gedenkweg entwickelt habe. Das aus dem Brunnen sprudelnde Wasser verinnerlichte sie mit der Ambivalenz von Wasser im christlichen Sinn. Einmal versinnbildlicht es die Zerstörung der Sintflut, zum anderen gelte es als Lebenselixier, als ein Symbol der Taufe, welche Christen über die Grenzen der Konfessionen vereint und zu Schwestern und Brüder mache. Mit Blick auf die abgebildeten Jahreszahlen der Opfer, Agathe sei 44 Jahre alt gewesen, die eine hatte gerade ihren zehnten Geburtstag und Maria, die Jüngste war noch keine sieben Jahre alt, werde hier an diesem Ort die schreckliche Schuld konkret.

Mit dem Schuldbekenntnis des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1945 sprach die Theologin die damals gefasste eigene Anklage aus, nämlich „dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Mit diesen Worten wollte man anzeigen, dass die ganze Welt einen neuen Anfang braucht.

Nach einer Gedenkminute in Stille erinnerte Regionalbischöfin Sachs an das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“, das der Theologe Dietrich Bonhoeffer vor seiner Ermordung im KZ Flossenbürg geschrieben hatte.

Im anschließenden Gespräch resümierte Renaldi Schröder als Betroffener über das Vergangene: „Es ist ein Unrecht geschehen! Wir hassen nicht – vergessen aber auch nicht!“

Hintergrundinformationen

Wissenschaftliche und finanzielle Begleitung des Projekts:

Unterstützung findet das Projekt neben regionalen Vereinigungen, wie von ISO oder Demokratie leben, durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus, die Oberfrankenstiftung, die Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, das EBZ Bad Alexandersbad, den Landkreis Bamberg und die Marktgemeinde Rattelsdorf.

Als Quellen dieser Forschungsarbeit wurden u.a. die Register des Schubgefängnisses in Nürnberg und KZ Auschwitz ausgewertet (Datenbank Bad Arolsen).

Die Ergebnisse des Kooperationsprojekts „Antiziganismus in Oberfranken“, erarbeitet vom Lehrstuhl Frühe Neuzeit (Dr. Marcus Mühlnikel), Institut für Fränkische Landesgeschichte in Thurnau, Thomas Höhne, Wissenschaftlicher Mitarbeiter VDRS Bayern, Ulli Schlee (Promotion) u.a. werden in Kürze in einem Tagungsband veröffentlicht.

Regionaler Bezug:

Die am 8. März deportierten Familien Braun, Ernst, Friedrich und Franz lebten in Rattelsdorf (damals Landkreis Staffelstein) am Bromberg 1, 5 und 18 sowie in der Kirchgasse 10.

Klara Franz, geb. Friedrich, wurde nachweisbar mit ihren fünf Kindern am 8. März 1943 in das Schubgefängnis von Nürnberg gebracht. Von dort ging es am 16. März weiter ins KZ Auschwitz. Nur der Tod von Sohn Alfons (9 Jahre) ist dokumentiert, das Schicksal der anderen bleibt unbekannt. So hat wohl nur die 16-jährige Ilka Friedrich, genannt Maria, aus dieser Deportationsgruppe überlebt. Sie konnte auf dem Transportweg nach Auschwitz fliehen und flüchtete sich zu ihren Großeltern Emma und Weidemann Friedrich nach Österreich, die rechtzeitig vom Rattelsdorfer Gemeindeschreiber Johann Behrschmidt gewarnt wurden.

In Höfenneusig (damals Landkreis Ebern) ist eine bronzene Gedenktafel für zehn Mitglieder der Familie Braun, die deportiert wurden, zukünftig beim Brunnen angebracht.

Sie trägt folgende Namen: Walter Braun (geb. 1899), Agathe Braun (1898), Martin Braun (1919), Hilde Braun (1921), Alfred Braun (1923), Hugo Braun (1925), Gottlieb Braun (1927), Gertrud Braun (1929), Ella Braun (1933) und Maria Braun (1936).

Zeitzeugenbericht:

Am zehnten Geburtstag von Ella Braun, dem 5. März 1943, „ganz plötzlich, ist in der Nacht ein Militärlaster gekommen, um sie zu holen“, so berichtete die während der Gedenkfeier anwesende Nachbarin der Familie, Elsa Schneider, als Zeitzeugin und früherer Schulkameradin von Maria Braun.

Über Würzburg wurden sie ins KZ nach Auschwitz gebracht. Sie hatten Glück und die Mehrheit von ihnen überlebte. Sohn Gottlieb Braun wurde erschossen, als er fliehen wollte, Gertrud starb im Lager an den Masern.

Die Bronzetafel, gestaltet von Steinbildhauer Josef Römer, Hirschaid-Köttmannsdorf, wurde nur provisorisch angebracht und soll nach einer Neugestaltung des Platzes ihren endgültigen, gebührenden Platz findet.

Ethisch korrekte Bezeichnungen

Die Bezeichnung „Zigeuner“ ist eine Fremdbezeichnung durch die Mehrheitsgesellschaft. Sie wird verbunden mit Klischees und rassistischen Vorurteilen. Die Volksgruppen der Sinti und Roma, deren Teilhabe an der gebietsweisen Geschichte über 600 Jahre nachweisbar ist, versucht mit einer eigenen Bürgerrechtsbewegung seit Anfang der 1980er Jahre diese Benennung in der Bevölkerung abzustellen.

Entgegenwirken gegen die jahrhundertelange Diskriminierung

Erst nach dem Hungerstreik in der KZ-Gedenkstätte Dachau wurde der Völkermord „aus rassistischen Gründen“ im Jahr 1982 von der deutschen Bundesregierung, dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt, anerkannt. Ein Staatsvertrag zwischen dem Freistaat Bayern und dem VDSR zum Schutz der Minderheit wurde erst unter Ministerpräsident Horst Seehofer im Februar 2018 unterzeichnet und von Markus Söder im März 2023 verlängert.


Weitere Fotos finden Sie in unserer großen Bildergalerie (zum Öffnen einfach ein beliebiges Foto anklicken, zum Beenden der Anzeige das X in der Ecke oben wählen).

Adelheid Waschka. Foto Nachkommen Fam. Braun: Manfred Jungkunz

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