Laut knacken die morschen Schwellen unter leichten Tritten hinauf zum Judenfriedhof, als sich Thomas A. Cohen aus Kalifornien zusammen mit seiner Ehefrau Kristi Denton Cohen auf die Spuren seiner Ahnen begab. Festes Schuhwerk war angesagt. Die ausgetrocknete Stufenanlage ist gezeichnet von den letzten beiden heißen Sommern. Auch auf dem Gräberfeld selbst sind im Vergleich zu den Vorjahren leichte Erdbewegungen wahrnehmbar.
Diejenigen Grabsteine, welche sich aufgrund der großen Dürre und den heftigen Starkregen im ansonsten feuchten Lehmboden leicht geneigt hatten, waren vom Träger des Judenfriedhofes, dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern, kurz vor dem Besuch der Amerikaner gesichert worden.
Die Inschriften der Grabsteine hatte Dr. Nicole Grom anlässlich ihrer Doktorarbeit über diesen fränkischen Judenfriedhof im Jahr 2012 entziffert und veröffentlicht. Mit Hilfe dieser Dokumentation war es für Archivarin Adelheid Waschka ein Leichtes, Tom Cohen die Grabsteine seiner Vorfahren zu zeigen. Dabei handelt es sich um die Denkmäler von Urururgroßvaters Itzik (Isaak) Kohn (Sohn des Baruch Katz, 18. Jh.), der am 1. April 1837 als „frommer Mann“ verstorben war, sowie von Urururgroßmutter Sara, geborene Adler: „Ihre Seele stieg in die Höhe am heiligen Schabbat, den 18. Adar I 613 nach der kleinen Zählung (26.02.1853)“, wie das Schriftfeld auf dem Grabstein verrät. Auch die beiden Ururgroßonkel, Baruch und Abraham Cohn, sind mit ihren Ehefrauen in Reckendorf begraben. Sie mussten im neu gegründeten Königreich Bayern ein lukratives Handwerk erlernen: Der erste wurde Buchbinder, der zweite wählte den Beruf des Vaters und verdiente sich als Seifensieder sein Brot.
Auf dem Grabstein von Abraham (*1803/+ 30.07.1881) und seiner Ehefrau Mina, geborene Frankenberger aus Sulzdorf a. d. Lederhecke (*1821/+18.01.1898), erkennt man schließlich das Symbol der Familie Katz/Kohn: zwei Hände mit gespreizten Fingern im Segensgestus, womit man auf ihre Herkunft aus dem israelitischen Priestergeschlecht anspielte.
Bürgermeister Deinlein (l.) und Altbürgermeister Klaus Etterer (r.) bei der Übergabe der Gastgeschenke an Tom Cohen.
Über die Familiengeschichte hatte zuvor Gemeindearchivarin Adelheid Waschka im Rathaus von Reckendorf detailliert informiert. Die Vorfahren stammten ursprünglich aus dem heutigen Anwesen Bahnhofstraße 14. Nachdem die fränkischen Juden keinen Wanderhandel mehr ausüben duften, widmete sich Stammvater und „Schmußjud“ Isaak Kohn der Seifensiederei. Mindestens drei seiner Kinder, Michael, Regina und Nathan, waren schon in jungen Jahren nach Amerika ausgewandert. Bei letzterem handelte es sich um das Bindeglied zu Tom Cohen, dessen Geburtsort es zunächst galt, herauszubekommen. Der Nachname wandelte sich in der Neuen Welt von „Kohn“ zu „Cohen“. Für den Kalifornier war es anfangs nur eine Ahnung: Bamberg oder Reckendorf sei der Herkunftsort, davon berichtete die Familientradition. Nathans Sohn William Nathan, der im Jahr 1857 in New York geboren war, wurde ein berühmter Richter am dortigen Obersten Gerichtshof; auch Nachfahre Tom Cohen studierte Jura und besitzt in Kalifornien eine Kanzlei.
Erster Bürgermeister Manfred Deinlein, gleichfalls Anwalt, hieß Ehepaar Cohen im Namen der Gemeinde Reckendorf herzlich willkommen und schenkte den Gästen einen Bierdeckel mit Reckendorfer Wappen und die Dokumentation „Reckendorf – Kultur und Kultus in einer fränkischen Landgemeinde“. Er zeigte sich sichtlich beeindruckt, dass die in Kalifornien berühmten Familien der Oberschicht, wie die Walters, Hellmanns und Haas‘, sämtlich von diesem kleinen fränkischen Reckendorf abstammen.
Tom Cohen neben dem Grabstein von Abraham und Mina Kohn, geb. Frankenberger (Nr. 345) mit der Geste der „segnenden Hand“
Im anschließenden Besuch der „Ehemaligen Synagoge – Haus der Kultur“ und der Ausstellung „Kultur und Kultus – die Genisa von Reckendorf“ konnten sich die amerikanischen Gäste während der Führung durch Heimatpfleger und Altbürgermeister Klaus Etterer ein Bild davon machen, wie belesen, aber auch wie bescheiden und sparsam die Vorfahren gelebt hatten. Als Gemeindearchivarin Adelheid Waschka beim folgenden Ortsrundgang auf das Stammhaus der Familie Haas und seinen direkten Bezug zum Haas-Lilienthal-House, dem Stadtmuseum von San Francisco, hinwies, erwähnte Tom Cohen, dass seine Mutter Sally in die Familie Lilienthal eingeheiratet hatte. Auch hier zeigte sich wieder die traditionelle Tugend der Bescheidenheit, denn Sally Ann Lowengart-Cohen-Lilienthal (1919–2006) war eine bemerkenswerte Frau, die unter anderem im Jahr 1971 die Abteilung Amnesty International im Westen von Amerika mitbegründet hatte und als zweite Vorsitzende des nationalen Verbands im Kampf für Menschenrechte 1977 den Friedensnobelpreis erhielt.
Tom Cohen bedankte sich nach seiner Rückkehr in die Staaten schriftlich bei allen Beteiligten überschwänglich mit den Worten: „It was a fascinating journey through my ancestors past“; es war für ihn „eine faszinierende Reise durch die Vergangenheit meiner Vorfahren“.
Gut zu wissen, dass auf manchen Grabsteinen individuelle Symbole der unterschiedlichen Familien zu finden sind. Mein Opa beschäftigt sich bereits mit dem Entwurf seines Grabsteins. Er möchte selbst ein Symbol entwerfen, das laut seiner Hoffnung auch die Grabsteine seiner Nachkommen eines Tages tragen.